geboren am 17. Mai 1969 in Zürich
Bürger von Nunningen
lebt und arbeitet in Zürich


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Auszug aus dem unveröffentlichten Manuskript «Unterland». Silvia ruft Georg an, der auf einer Bild-Nachrichtenagentur arbeitet. Sie nimmt ein Gespräch über den Golfkrieg 1991 wieder auf, das die beiden zwei Wochen zuvor abgebrochen haben.


Die Lägern (mein Lieblingsberg! nicht erst seit meiner Zeit mit Silvia) liegt wie ein riesiges Tier im Unterland; eine Sphinx, die ihr Land bewacht.

Foto: Kurt Egger / Verlag Hier und Jetzt















Am Montag darauf rief mich Silvia abends, als ich allein noch da war, auf die Redaktion an.
«Du?» Silvia hatte ich nicht erwartet.
«Hast du noch viel zu tun?» fragte sie.
«Nein.» Montage sind Tage mit wenig Sport, ich hatte Zeit. «Was gibt’s?» Ich wunderte mich über den Anruf.
«Du hast doch gesagt, das Pentagon habe, mit Hilfe der Bildmedien, den ‹chirurgischen Krieg› erfunden.»
«Deshalb rufst du an? Ja, hab ich.»
Es kam mir vor, die Diskussion liege viel weiter zurück als zwei Wochen, ein halbes Jahr mindestens. Silvia nahm sie so unvermittelt wieder auf, als wäre in den zwei Wochen nichts gewesen und als hätte sie sich nicht vor fünf Tagen von mir verabschiedet.
«Also hör, ich habe da eine Theorie. Mit der Erfindung des ‹chirurgischen Kriegs›, hast du gesagt, sei die Fortsetzung der Politik mittels Krieg wieder eingeführt.»
«Ja.»
«Und die Bilder der freien Medien, von Militärs gekonnt manipuliert, werden zur Propaganda für diese Wiedereinführung.»
«Ungefähr.»
«Wenn ich nun behaupte, Propaganda sei kein Mittel für den Krieg gewesen?»
Wäre sie hier gewesen, oder hätten wir uns sonst wo getroffen, ich hätte sie berühren wollen, küssen, anschauen, hätte ihren kleinen runden Kopf in meine Hände nehmen wollen, aber jetzt am Telefon auf der Bildredaktion, wo es nach Fotochemie roch, wo ab und zu der Ticker ratterte (wir hatten uralte Geräte, deren einst weiße Plastikgehäuse vergilbt waren) und wo die Ventilation des Raumes und die Ventilatoren der Geräte rauschten, ließ ich mich auf das eigenartige Gespräch ein.
«Sondern?» Ich war neugierig, worauf sie hinaus wollte.
«Kriegszweck.»
«Du meinst, der Golfkrieg sei geführt worden zu Propagandazwecken?»
«Um den neuen ‹chirurgischen Krieg› zu propagieren.»
«Da geht’s doch nicht um Marketing», wandte ich ein.
«Natürlich geht’s darum, wieso denn nicht.»
«Du bist verrückt.»
«Die Welt ist verrückt», entgegnete Silvia.
Ich wehrte mich gegen solche Gedankenspiele, aber Silvia beharrte und meinte, oft seien vernünftige Gedanken entstanden, wenn man bestehende bis ins Unvernünftige weiter gedacht habe. «Spielen wir das doch einmal durch.»
«Spielen» schien mir zynisch angesichts des Gegenstandes, doch schließlich war meine Neugier auf ihre Gedanken größer als mein Widerstreben.
«Also», sagte ich, jetzt selber in Fahrt, «schieß los.»
«Gut. Beginnen wir bei Vietnam. Das ist das kollektive Trauma der Amis.»
«Einverstanden», sagte ich.
«Gut. Nun haben sie den Kalten Krieg, Vietnam war eine verlorene Schlacht in einem Krieg, der weitergeht, also verdrängt man das Trauma und arbeitet weiter am Ziel. Aber dann geht dieser Kalte Krieg zu Ende. Zwar sind die Amis Sieger, aber nicht weil sie gesiegt haben, sondern weil der Gegner sich selbst besiegt hat.»
«Einverstanden.»
«Èh!» – Ich kannte dieses «èh!» von Mike. Es war das italienische Wort (die Geschwister teilten eine gewisse Italophilie), das fast alles bedeuten kann; in dieser Betonung hieß es «Na, hab ich dir nicht immer schon gesagt, dass ich Recht habe!»
«Nun besteht aber die Gefahr», fuhr sie fort, «dass Vietnam, bei Lichte besehen, erst recht sinnlos war, wenn doch der Kommunismus einfach so und von selbst zu Ende ging. Na? Und Ziel hat man auch keins mehr.»
«Der amerikanische Vizepräsident sagte während dem Golfkrieg mal, dieser Krieg sei die Genugtuung für alle Vietnamveteranen», ergänzte ich.
«Bravo!» rief Silvia begeistert. Sie sprach auch ihr «Bravo» italienisch aus, das «B» so stimmhaft, als sagte sie «Mbravo», und das bedeutete auf deutsch: «Brav, Kleiner, sagst ja ganz gescheites Zeug, wenn du dich ein bisschen anstrengst!»
«Dan Quayle war ein Dummkopf», entgegnete ich, um den Grund ihrer Begeisterung zu relativieren.
«Wer?»
«Dan Quayle, der amerikanische Vize damals.»
«Ach so? Egal; Intelligenz ist kein Kriterium. Also, da haben sie ihr Trauma, und jetzt erinnere dich an unsere Diskussion über Apocalypse Now!»
«Zu Befehl!»
«Gut. Das ist die Verfilmung vom Herzen der Finsternis. Gut. Dschungel in Vietnam, Dschungel im Kongo, und gedreht wurde der Film im Dschungel auf den Philippinen; die Dreharbeiten sollen ein Albtraum gewesen sein.»
«Coppola soll in Cannes gesagt haben, das sei kein Film über Vietnam, das sei Vietnam.»
«Voilà!»
«Ein schöner Satz, eine bescheuerte Aussage», unterbrach ich; Silvia ignorierte den Einwand.
«Der Golfkrieg aber fand in der Wüste statt! Welch ein Kontrast! Die großen amerikanischen Fernsehstationen haben Videokassetten über den Golfkrieg gemacht: Desert Triumph hieß eine und Desert Storm: The Victory eine andere, und sie versprachen im Untertitel ‹Die komplette Geschichte des Kriegs›. Und womit beginnen die? Es ist, als hätten alle den selben Regisseur gehabt. Die beginnen mit Bildern von Vietnam, Dschungel, Bodybags und so.»
«Woher weißt du denn das?»
«Ich hab mich ein wenig kundig gemacht.»
Das war Silvia. Seit unserem Gespräch auf der Redaktion hatte das Thema sie offenbar nicht mehr losgelassen; hatte sie daran herumstudiert und sich gleichzeitig «ein wenig kundig gemacht» – hatte wahrscheinlich stundenlang im Internet gesurft und die Zentralbibliothek durchforstet.